Der Tempel der tausend Spiegel
In einer alten indischen Stadt stand einmal ein prachtvoller Tempel. Die Wände des Tempelinneren waren vollkommen mit Spiegeln ausgekleidet.
Ein kleiner, herumstreunender Hund fand seinen Weg in den Tempel. Er war von Natur aus vorsichtig und ängstlich. Im Inneren des Tempels sah er sich unzähligen anderen Hunden gegenüber. Er fletschte seine Zähne und knurrte. Von überall knurrte es mit gefletschten Zähnen zurück. Er blickte in unendlich viele, wilde Hundeaugen und wurde zornig. Laut bellend lief er im Kreis herum, doch die vielen, vielen Hunde, die scheinbar mit ihm im Raum waren, kläfften auch und ließen sich keineswegs abschütteln. Zum Glück fand er den Ausgang und warnte zeit seines Lebens alle seine Artgenossen vor diesem Tempel: „Dort drinnen gibt es nichts zu Fressen, sondern nur unendlich viele, gemeingefährliche Kläffer."
Einige Zeit später erschnüffelte sich ein anderer, kleiner Hund seinen Weg ins Tempelinnere. Dieser Hund war neu in der Stadt und hatte noch nichts von den Erlebnissen des ersten Hundes gehört. So war er bass erstaunt, als er sich plötzlich abertausenden von Hunden gegenüber sah. ,,Ach, hier sind die alle!", dachte und freute sich. Er wedelte mit dem Schwanz und die vielen Hunde wedelten scheinbar begnügt zurück. Darüber freute er sich noch mehr und beglückt wedelte er noch heftiger mit dem Schwanz. Der kleine Hund geriet in einen wahren Freudentaumel, den die Artgenossen im Spiegel sofort mit wahrem Entzücken beantworteten. Auch dieser Hund fand zum Glück seinen Weg aus dem Tempel hinaus, er wäre ansonsten vor lauter Freude einem Herzkasper erlegen. Zeit seines Lebens pilgerte immer wieder zu dem Tempel, um eine gute Beziehung zu den Freunden dort zu pflegen. Allen Artgenossen erzählte er: „In dem Tempel gibt es zwar nichts zu Fressen, aber man kann Bekanntschaft mit den freundlichsten Hunden der Welt machen!"
So kann derselbe Raum für den einen ein Ort des Schreckens und für den anderen ein Platz der Freude sein.